Nutzenbewertung von Arzneimitteln: Zolgensma® als Prüfstein für den G-BA

Das gentherapeutische Arzneimittel für neuartige Therapien (ATMP) Zolgensma®, das (zugelassen) seit dem 01.07.2020 in der Lauer-Taxe gelistet und auf dem deutschen Markt verfügbar ist, sorgt spätestens seitdem für arzneimittel- und sozialrechtliche Diskussion. Neben der Frage der Kostenerstattungspflicht durch gesetzliche Krankenkassen (die das Landessozialgericht Essen in einem vorläufigen Verfahren zuletzt annahm, vgl. Beschluss vom 28.09.2020, L 10 KR 542/20 B ER) ist insbesondere das Verfahren zur Nutzenbewertung des Arzneimittels vor dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) von Interesse, über das nachfolgend berichtet wird.

Zum Hintergrund: Die Europäische Kommission hat Zolgensma® am 18.05.2020 eine (bedingte) Zulassung für die Behandlung bestimmter Formen spinaler Muskelatrophie (SMA) erteilt. Die SMA ist eine seltene, genetisch bedingte neuromuskuläre Erkrankung. Sie geht einher mit Muskelschwäche und Skelettverformungen und führt in der schwersten Form unbehandelt zum Tod. Jährlich werden in Deutschland ca. 80 bis 120 Kinder (davon mindestens die Hälfte mit SMA Typ 1, der schwersten Form der SMA) mit dieser genetischen Krankheit geboren. Bei Zolgensma® handelt sich um eine Gentherapie, die bei bestimmten Formen der SMA eine Kopie des fehlenden Gens liefern und entsprechend frühzeitig in den Krankheitsverlauf eingreifen soll, um das Fortschreiten der Muskelschwäche aufzuhalten. Schon seit dem 19. Juni 2015 ist Zolgensma® als sog. Arzneimittel für seltene Leiden („Orphan Drug“) ausgewiesen.

Zolgensma® wird nur einmalig angewendet, die Injektion kostet gegenwärtig allerdings rund 2 Millionen Euro (vgl. Landessozialgericht Essen, Beschluss vom 28.09.2020 – L 10 KR 542/20 B ER, Rn. 2, juris). Die wenigen Behandlungsmöglichkeiten der SMA beschränken sich derzeit (neben der Therapie mit Zolgensma®) je nach Erkrankungsbild auf eine dauerhafte Gabe des Antisense-Oligonukleotids Spinraza® (Nusinersen) oder auf eine patientenindividuell optimierte, unterstützende Behandlung, um Symptome zu lindern und die Lebensqualität zu verbessern.

Am 01.07.2020 leitete der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) entsprechend § 35a Abs. 1 S. 3 SGB V die Nutzenbewertung des Arzneimittels ein. Bei einem Orphan Drug wie Zolgensma® gilt der Zusatznutzen gemäß § 35a Abs. 1 S. 11 SGB V als belegt. Der G-BA darf zunächst nur bewerten, wie groß das Ausmaß des Zusatznutzens ist: gering, beträchtlich, erheblich oder nicht quantifizierbar. Als Grundlage für die Entscheidung muss der Hersteller dem G-BA kein vollständiges Dossier – das heißt mit Nachweisen des medizinischen (Zusatz-)Nutzens im Verhältnis zur Vergleichstherapie – zur Verfügung stellen. Dieses eingeschränkte Nutzenbewertungsverfahren sollte im Dezember 2020 abgeschlossen werden.

Dieses Verfahren hat der G-BA mit Beschluss vom 03.12.2020 allerdings ausgesetzt, da der Umsatz von Zolgensma ® vom Markteintritt in Deutschland nach Darstellung bereits mehr als 50 Mio. Euro betrage (https://www.g-ba.de/presse/pressemitteilungen-meldungen/916/). Gemäß § 35a Abs. 1 S. 12 SGB V gilt die Zusatznutzenfiktion nur bis zu einer Umsatzschwelle von 50 Mio. Euro. Der G-BA wird nun in der regulären frühen Nutzenbewertung anhand von Vergleichsdaten bewerten, ob und in welchem Ausmaß ein medizinischer Zusatznutzen von Zolgensma® vorliegt. Über das Ergebnis des Bewertungsverfahrens wird der G-BA voraussichtlich im November 2021 entscheiden. Der hohe Preis der Therapie hat mithin dazu geführt, dass es innerhalb kürzester Zeit zu dem geschilderten Verfahrenswechsel kam und die Zusatznutzenfiktion erst gar nicht zur Anwendung gelangte.

Der „Fall Zolgensma®“ ist für die Nutzenbewertung von Arzneimitteln darüber hinaus deshalb richtungsweisend, da der G-BA in diesem Verfahren erstmals von dem neuen Instrument der sog. anwendungsbezogenen Datenerhebung Gebrauch gemacht hat. Die Möglichkeit zur Forderung einer anwendungsbegleitenden Datenerhebung gemäß § 35a Absatz 3b SGB V war erst mit dem Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung („GSAV“) vom 15.08.2019 u.a. für Orphan Drugs eingeführt worden. Laut Beschluss vom 16.07.2020 hält der G-BA eine derartige anwendungsbegleitende Datenerhebung bei Zolgensma® für erforderlich, da bislang keine aussagekräftigen Daten für die Beurteilung des langfristigen Nutzens oder Schadens der Behandlung vorliegen und vergleichende Daten zu Therapiealternativen fehlen.

Der Verfahrensablauf vor dem G-BA lässt erkennen, dass das durch das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz („AMNOG“) 2010 eingeführte und regelmäßig nachgebesserte System der Nutzenbewertung von Arzneimitteln bei ATMP an seine Grenzen stößt. Ob die vom Gesetzgeber bisher eingeführten Reformen für eine effektive Regulierung geeignet und ausreichend sind und das vorhandene System insoweit durch bloßes „Weiterlernen“ aufrechterhalten werden kann, muss sich noch zeigen.

 

Dr. Tobias Volkwein