Viele Ärzte dokumentieren die Leistungen der psychosomatischen Grundversorgung nicht ausführlich. Das ist angesichts aktueller Rechtsprechung hierzu nicht unkritisch.
Das Urteil:
Der 12. Senat des Bayerischen Landessozialgerichts hat am 20. Oktober 2021 ein Urteil (Az.: L 12 KA 4/20, nicht veröffentlicht) zu den Anforderungen an die Dokumentation von Leistungen nach den GOPen 35100 und 35110 EBM gefällt.
In die Plausibilitätskontrolle geraten war ein hausärztlicher Internist in Einzelpraxis. Die KV hatte die Honorarbescheide für zahlreiche Quartale zurückgenommen und das Honorar für die einzelnen Quartale neu festgesetzt. Sie argumentierte u.a., bezüglich der abgerechneten Leistungen nach den GOP 35100, GOP 35110 liege keine ordnungsgemäße Dokumentation vor. Die ihr vorliegenden Unterlagen enthielten keine Notizen, die auf eine psychosomatische Grundversorgung hindeuteten. Der zu erstattende Rückforderungsbetrag war stattlich.
Der Arzt klagte und trug vor, es treffe nicht zu, dass bei der Abrechnung der GOP 35110 Dokumentationen lediglich durch „zwei bis drei Stichworte" erfolgt seien. Die grundlegende psychosomatische Behandlung sei vor allem durch verbale Interventionen im Rahmen einer vertrauensvollen Arzt-Patienten-Beziehung zu leisten (Basistherapie). Genau diese Inhalte seien den verbalen Interventionen zu Grunde gelegt, was durch seine Gesprächsaufzeichnungen belegt werde. Eine fehlende oder unzureichende Dokumentation berechtige die Kassenärztlichen Vereinigungen nur dann zur Honorarkürzung, wenn diese zum ausdrücklichen Leistungsinhalt der GOP gehöre, was im vorliegenden Fall nur auf die Leistungen nach der GOP 35100 EBM zutreffe. Danach verbiete sich eine Honorarkürzung wie vorliegend allein mit dem Argument einer unvollständigen Dokumentation. Ein Nachweis für einen Fehlansatz der Leistungen liege gerade nicht vor.
Die KV hingegen war der Auffassung, der Leistungsinhalt der geprüften GOP 35100 sei in den geprüften Fällen nicht vollständig erfüllt. Es fehle in allen Fällen der im EBM geforderte schriftliche Vermerk der ätiologischen Zusammenhänge sowie die in § 12 der Psychotherapierichtlinie geforderte schriftliche Dokumentation. Auch bei der GOP 35110 sei eine Dokumentation der erbrachten Leistungen notwendig. Eine Abgrenzung zu simplen Gesprächsleistungen sowie zur Grundpauschale sei erforderlich.
Das sah das Sozialgericht ähnlich: Obligater Leistungsinhalt der GOP 35100 sei unter anderem ein schriftlicher Vermerk über ätiologische Zusammenhänge, der sich in keiner der geprüften Dokumentationen finde. Darüber hinaus enthielten die vorgelegten Patientendokumentationen in den meisten Fällen keinerlei Dokumentation oder Hinweise darauf, dass der Arzt eine somatische Befundung vorgenommen habe, die nach Ansicht der sachverständig besetzten Kammer aber unabdingbar notwendig wäre, um rein somatische Ursachen auszuschließen. Für die vollständige Erbringung der GOP 35110 EBM fehle es in der Patientendokumentation insbesondere jeweils an einer Dokumentation des jeweiligen Ist-Zustandes am Behandlungstag sowie von Fortschritten, Erfolgen und Misserfolgen der Interventionen. Auch wesentliche Inhalte der verbalen Interventionen müssten dokumentiert werden, um eine Anknüpfung an die verbale Intervention zu einem späteren Zeitpunkt zu ermöglichen.
Nicht hinreichend dargelegte, dokumentierte und nachgewiesene Leistungen seien als nicht erbracht bzw. als nicht erfüllt anzusehen und könnten nicht abgerechnet werden. Darüber hinaus befinde sich die vorliegend geprüfte GOP im Kapitel 35 des EBM mit der Überschrift „Leistungen gemäß den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Durchführung der Psychotherapie (Psychotherapie-Richtlinien)". Die Anforderungen der Psychotherapie-Richtlinie seien insofern notwendiger Leistungsinhalt der GOP 35110 EBM.
Da die Psychotherapie-Richtlinie des GBA insoweit eine normative Vorgabe darstellten, auf die der EBM in der Kapitelüberschrift sowie der Präambel 35.1 Nr. 1 ausdrücklich Bezug nehme, seien die dort enthaltenen Dokumentationsanforderungen verbindlich. Erfülle der Arzt diese nicht, dürfe die KV die betreffende Leistung absetzen.
Das LSG hielt die Kürzungen aufrecht mit folgenden Erwägungen:
Aus der vorliegenden ärztlichen Dokumentation lasse sich die Erfüllung des obligaten Leistungsinhalts der EBM 35100 und 35110 nicht entnehmen. Abrechenbar und vergütungsfähig seien nur solche Leistungen, die in Übereinstimmung mit den für die vertragsärztliche Versorgung geltenden Vorschriften, vor allem dem EBM und den sonstigen Abrechnungsbestimmungen erbracht werden. Die allgemeine Dokumentationspflicht hinsichtlich erbrachter Leistungen ergäbe sich aus § 57 BMV-Ä. Für Maßnahmen der psychosomatischen Grundversorgung ergäbe sich eine über die allgemeine Dokumentationspflicht hinausgehende besondere Dokumentationspflicht aus § 12 der Psychotherapie-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses. Der Verweisung in der Überschrift des Kapitels 35 komme nicht allein eine abgrenzende Funktion zu.
Den vom Arzt vorgelegten Unterlagen sei eine für die Abrechnung der GOP 35100 EBM erforderliche Dokumentation nicht zu entnehmen.
Die alleinige Kodierung von Somatisierungsstörungen oder körperlichen Beschwerden reiche für die Erfüllung des obligaten Leistungsinhalts der GOP 35100 erkennbar nicht aus. Erforderlich sei vielmehr ein schriftlicher Vermerk über die ätiologischen Zusammenhänge. Dieser sei als Ergebnis der differentialdiagnostischen Klärung psychosomatischer Krankheitsbilder und der ärztlichen Feststellung oder Annahme einer ursächlichen Beteiligung psychischer Faktoren als wahrscheinlich zu verstehen. Nicht zuletzt auch wegen der Erforderlichkeit eines schriftlichen Vermerks gehöre eine Dauer von mindestens 15 Minuten zum obligaten Leistungsinhalt.
Aus der Dokumentation des Klägers lasse sich auch die vollständige Erbringung des Leistungsinhaltes der GOP 35110 EBM nicht entnehmen.
Zwar sei in der Leistungslegende der GOP 35110 keine weitergehende Dokumentationspflicht geregelt. Inhalt und Umfang der Dokumentationspflicht richteten sich daher nach den im Allgemeinen Teil des EBM und im BMV-Ä geregelten allgemeinen Dokumentationspflichten und den besonderen sich aus den Regelungen der PT-RL ergebenden Dokumentationspflichten.
Es sei eine Obliegenheit des Arztes, begründete Zweifel an der Richtigkeit der Abrechnung auszuräumen. Als Anspruchsteller treffe den Arzt grundsätzlich die Feststellungslast hinsichtlich der Voraussetzungen für seinen Vergütungsanspruch. Das gelte vor allem, wenn sich der Arzt auf für ihn günstige Tatsachen berufen will, die allein ihm bekannt sind oder nur durch seine Mithilfe aufgeklärt werden können. Die zur Begründung seines Anspruchs dienenden Tatsachen müsse der Vertragsarzt in diesen Fällen so genau wie möglich angeben und belegen.
Dem genüge die klägerische Dokumentation offensichtlich nicht. Es sei weder ersichtlich, dass eine psychosomatische Erkrankung diagnostiziert worden ist, noch wie sich die aktuelle Krankheitssituation darstellt. Es fehle an einem schriftlichen Hinweis auf einen Therapieansatz als Ausdruck einer übergeordneten Behandlungsstrategie sowie der Dokumentation der wesentlichen Inhalte der Intervention. Auch sei die Erfüllung der nach dem obligaten Leistungsinhalt erforderlichen systematischen Nutzung der Arzt-Patienten-Interaktion nicht ersichtlich. Für den Ansatz der GOP 35110 sei offensichtlich nicht ausreichend, wenn aus der Dokumentation ein Behandlungskonzept nicht erkennbar ist und eine Abgrenzung zu allgemeinen Gesprächsleistungen nicht möglich ist. Die Dokumentation der Abrechnungsziffer oder der Diagnose F32.8 (sonstige depressive Episode) reicht erkennbar nicht aus.
Bewertung:
Die Entscheidung des LSG erscheint kritikwürdig.
Hinsichtlich der GOP 35110 EBM begründet das LSG das Bestehen weitergehender Dokumentationspflichten mit Regelungen aus der zum Zeitpunkt der Leistungserbringung geltenden PT-RL (§§ 12, 21a).
Dabei erkennt auch der Senat in seiner Entscheidung zunächst das Fehlen einer ausdrücklichen Bestimmung zu besonderen Dokumentationspflichten in der Leistungslegende der streitgegenständlichen GOP, er zieht daraus allerdings nicht den naheliegenden Schluss, dass für eine Leistungserbringung nach diesem Gebührentatbestand insgesamt keine besonderen bzw. obligaten Dokumentationspflichten bestehen. Stattdessen wird deren Existenz unter Einbeziehung ergänzender Vorschriften hergeleitet.
Allein maßgeblich für die Bestimmung des Umfanges vertragsärztlicher Dokumentationspflichten in Bezug auf einzelne Gebührentatbestände im EBM dürfte allerdings der in der jeweiligen Leistungslegende beschriebene „Obligate Leistungsinhalt“ bzw. dürften die hierin aufgeführten Maßnahmen sein. Die Leistungslegende der GOP 35110 bietet keinen Anhaltspunkt für die Annahme einer besonderen Dokumentationspflicht, wenn lediglich die „Verbale Intervention bei psychosomatischen Krankheitszuständen“ und die „Systematische Nutzung der Arzt-Patienten-Interaktion“ für eine Dauer von 15 Minuten aufgezählt werden.
Das LSG überdehnt den obligaten Leistungsinhalt, wenn es meint, dass die Aufzeichnungen des Arztes auch „schriftlichen Hinweis auf einen Therapieansatz als Ausdruck einer übergeordneten Behandlungsstrategie“ beinhalten müssen.
Mit der Einbeziehung besonderer Dokumentationspflichten aus der PT-RL setzt sich das LSG über eine Entscheidung des LSG NRW, Beschluss vom 22.05.2019 (L 11 70/18 B ER), hinweg.
Entgegen der Auffassung des LSG dürfte vor dem Hintergrund der Ausführungen des LSG NRW das Fehlen einer ausdrücklichen Bestimmung zu besonderen Dokumentationspflichten in der Leistungslegende zur GOP 35110 EBM als entscheidendes Argument gegen das Bestehen solcher weitergehender Dokumentationspflichten gemäß der PT-RL für eine vollständige und ordnungsgemäße Leistungserbringung sprechen.
Dies wird auch deutlich an einem systematischen Vergleich zu der GOP 35100 EBM, die ebenfalls Maßnahmen der psychosomatischen Grundversorgung regelt („Differentialdiagnostische Klärung psychosomatischer Krankheitszustände“) und für die sich eine besondere schriftliche Dokumentationspflicht unmittelbar aus der zugehörigen Leistungslegende ergibt („Schriftlicher Vermerk über ätiologische Zusammenhänge“).
Das lässt den Schluss zu, dass für eine Leistungserbringung im Hinblick auf die „benachbarte“ GOP 35110 EBM eine weitergehende Dokumentationspflicht nicht vorgesehen ist. Damit dürfte es auch unzulässig sein, Dokumentationspflichten aus ergänzenden Vorschriften heranzuziehen, da andernfalls eine entsprechende Anforderung – vergleichbar mit dem in der GOP 35100 EBM - in die Leistungslegende der GOP 35110 EBM hätte aufgenommen werden müssen.
Nur bedingt überzeugend sind zudem die systematischen Gesichtspunkte, die das LSG für die Einbeziehung von Dokumentationspflichten in den Leistungstatbestand der streitigen GOP herangezogen hat. So würde aus der systematischen Stellung der GOP 35110 EBM im 35. Kapitel des EBM („Leistungen gemäß den Psychotherapie-Richtlinien, PT-RL“) als weitere Voraussetzung für eine ordnungsgemäße Leistungserbringung die Erfüllung besonderer Vorgaben in der PT-RL folgen. Dies habe wiederum zur Folge, dass sich aus § 12 PT-RL entgegen der zugehörigen Leistungslegende eine besondere Dokumentationspflicht für die Erbringung von Leistungen nach der GOP 35110 EBM ergebe.
Eine solche Lesart durch das LSG widerspricht nicht nur der Rechtsauffassung des LSG NRW (s.o.), sondern zugleich auch der allgemein anerkannten Auslegungsmethodik im Hinblick auf vertragsärztliche Vergütungsbestimmungen.
Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung hervorgehoben, dass für die Auslegung vertragsärztlicher Vergütungsbestimmungen maßgeblich der Wortlaut der Regelung sei (vgl. nur Urt. vom 04.05.2016 - B 6 KA 16/15 R; Urt. vom 16.12.2015 - B 6 KA 39/15 R). Dies gründet sich nach Auffassung des Senats zum einen darauf, dass das vertragliche Regelwerk dem Ausgleich der unterschiedlichen Interessen von Ärzten und Krankenkassen diene und es vorrangig Aufgabe des Normgebers des EBM, des Bewertungsausschusses gemäß § 87 Abs. 1 SGB V, sei, Unklarheiten zu beseitigen.
Zum anderen folge die primäre Bindung an den Wortlaut auch aus dem Gesamtkonzept des EBM als eine abschließende Regelung, die keine Ergänzung oder Lückenfüllung durch Rückgriff auf andere Leistungsverzeichnisse bzw. Gebührenordnungen oder durch analoge Anwendung zulasse.
Raum für eine systematische Interpretation im Sinne einer Gesamtschau der im inneren Zusammenhang stehenden vergleichbaren oder ähnlichen Leistungstatbestände sei nur dann gegeben, wenn der Wortlaut eines Leistungstatbestandes zweifelhaft sei und es einer Klarstellung bedürfe. Leistungsbeschreibungen dürften nach der Rechtsauffassung des BSG allerdings weder ausdehnend ausgelegt noch analog angewendet werden (BSG Urt. v. 4.5.2016 – B 6 KA 16/15 R, Rn. 23 nach beckonline m.w.N.).
In Ansehung der klar umgrenzten Bestimmung obligater Leistungsinhalte in der Leistungslegende zur GOP 35110 EBM („Verbale Intervention bei psychosomatischen Krankheitszuständen, Systematische Nutzung der Arzt-Patienten-Interaktion, Dauer mindestens 15 Minuten“) dürfte kein Raum für eine ergänzende Auslegung bestehen. Das BSG hat in seiner vorstehenden Entscheidung schließlich darauf hingewiesen, dass hiervon nur im Falle eines zweifelhaften Wortlauts ausgegangen werden könne und insoweit eine Klarstellung durch Auslegung des geschriebenen Tatbestandes erforderlich sei.
Der Wortlaut der Leistungsbestimmung für die streitige GOP ist allerdings keineswegs zweifelhaft – es fehlt schlichtweg an einer ausdrücklichen Bestimmung zur weitergehenden Dokumentationspflicht.
Über diese vom BSG aufgestellten allgemeinen Auslegungsgrundsätze in Bezug auf die Interpretation vertragsärztlicher Vergütungsbestimmungen setzt sich das LSG mit der Einbeziehung weitergehender Dokumentationspflichten aus der zum Zeitpunkt der Leistungserbringung geltenden PT-RL hinweg, die damit insgesamt eine unzulässige Ausdehnung der Leistungsbeschreibung darstellen dürfte.
Dr. Thomas Willaschek