Bei der Werbung für Fernbehandlungen ist trotz Änderung des § 7 Abs. 4 der Musterberufsordnung (MBO-Ä) weiterhin Vorsicht geboten. In einer neueren Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) aus Dezember 2021 macht dieser die Grenzen deutlich und stellt klar, dass das ärztliche Berufsrecht diese Grenzen nicht allein bestimme. Vielmehr seien die Pflichten aus dem Behandlungsvertrag einzuhalten und es komme in Ansehung der neugefassten Regelung in § 9 Satz 2 HWG darauf an, ob nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit zu behandelnden Menschen nicht erforderlich sei.
Die beklagte in der Schweiz ansässige Ärztin hatte auf ihrer Internetseite mit der Aussage „Erhalte erstmals in Deutschland Diagnosen, Therapieempfehlung und Krankschreibung per App“ für einen „digitalen Arztbesuch“ geworben. Die Klägerin, die Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs, sah darin einen Verstoß gegen das Verbot der Werbung für Fernbehandlungen nach § 9 HWG.
§ 9 HWG verbietet Werbung für Fernbehandlungen im Sinne der Erkennung oder Behandlung von u.a. Krankheiten, die nicht auf eigener Wahrnehmung beruht. Im Laufe des Berufungsverfahrens wurde die Vorschrift um Satz 2 ergänzt, der die Werbung wiederum erlaubt, wenn für die Behandlung nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt nicht erforderlich ist.
Der BGH hat nun entschieden, dass die weitgefasste Werbung der Beklagten nicht nur gegen § 9 HWG in seiner alten, sondern auch in seiner neuen Fassung verstößt. Diagnose, Therapieempfehlungen und Krankschreibungen per App stellten eine Fernbehandlung dar, da sie nicht auf eigener Wahrnehmung beruhten. Diese sei dadurch gekennzeichnet, dass die Ärztin PatientInnen nicht nur sehen und hören, sondern auch – etwa durch Abtasten, Abklopfen oder Abhören oder mit medizinisch-technischen Hilfsmitteln wie beispielsweise Ultraschall – untersuchen könne. Arzt und Patient müssten also gleichzeitig unmittelbar physisch präsent sein.
Auch eine Ausnahme nach Satz 2 liege nicht vor, da sich die Werbung nicht auf Behandlungen beschränke, für die ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem Patienten nach allgemeinen fachlichen Standards nicht erforderlich sei. Diese Standards bestimmten sich nicht nach den geltenden Regelungen des Berufsrechts, sondern ergäben sich aus dem Behandlungsvertrag (§ 630a Abs. 2 BGB) und denjenigen Grundsätzen, die bezüglich der vom Arzt zu erfüllenden Pflichten entwickelt wurden. Danach können sich die fachlichen Standards auch erst im Laufe der Zeit entwickeln und etwa aus den Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften oder den Richtlinien des GBA ergeben. Da im Fall die Beklagte schon nicht behauptet hatte, die von ihr beworbene Fernbehandlung entspräche in jedem Fall den fachlichen Standards, nahm der BGH dies auch nicht an.
DR. SOPHIA GLUTH